Micro Adventure: Jemanden in einer Lawine finden (und rechtzeitig ausgraben)

Wer andere aus Lawinen retten will, sollte spätestens am Abend davor damit anfangen. Auf drei Dinge kommt es dabei an: eine Schaufel, eine Sonde und ein so genanntes LVS-Gerät, wobei LVS für Lawinenverschüttetensuche steht. Viele sagen zum LVS-Gerät auch einfach „Piepser“ und bevor es in den Schnee geht, so unser Ausbilder vom DAV Freiburg, habe sich jeder von der Funktionstüchtigkeit seines Piepsers zu überzeugen. Und damit umgehen können, muss man auch. Man könne das gar nicht genug betonen. Das sei enorm wichtig. 

Schon klar, denke ich etwas ungeduldig, genau deswegen bin ich ja schließlich hier: Um die Bedienung eines LVS-Geräts zu lernen. „Hier“ heißt im Schwarzwald, genauer gesagt auf dem Schauinsland. Nicht gerade Lawinengebiet Nummer eins, aber wir sind ja auch nur zum Üben hier und außerdem hat es immerhin in der vergangenen Nacht geschneit. Wir stehen daher in etwa 20 Zentimeter Neuschnee auf unserer Kuhweide und dann geht es auch schon los. 

Lawinenverschüttetensuchende auf der Kuhweide

Fünfzehn Minuten. Wer länger als fünfzehn Minuten unter einer Lawine begraben bleibt, dessen Überlebenschancen sinken rapide. Daher gehe ich, meinen von einem Freund ausgeliehenen Piepser in der Hand, nicht über unsere Kuhwiese, sondern renne und zwar wie geheißen im Zickzack. Dabei versuche ich, ein möglichst realistisches Lawinenszenario nachzustellen. Was einerseits schwierig ist: Nichts hier sieht aus wie Ernstfall. Andererseits gibt es da ja bekanntlich diesen guten Ratschlag. Akzeptieren, was ich nicht ändern kann. Ändern, was ich ändern kann. Zu den Dingen, die ich nicht ändern kann, zähle ich Schneelage, Wetterlage und Gelände. Zu den Dingen, die ich ändern kann, zähle ich mich. Beziehungsweise meine Einstellung. 

Ich arbeite an meiner Einstellung unter Zuhilfenahme eines in der Schnittmenge aus Gamification, Prokrastination und Ethik angesiedelten Gedankenexperiments namens Trolley-Problem. Sie haben bestimmt schon davon gehört. Das Problem gibt es in verschiedenen Varianten, oft geht es darum, ob ein fahrerloses Auto lieber ein Kind überfahren soll oder einen Obdachlosen. Vor einigen Jahren war eine andere Version populär, damals galt es abzuwägen zwischen einem entführten Passagierflugzeug und einem Stadion voller Fußballfans.  

Ich auf meiner Kuhweide denke mich in ein anderes Dilemma. Auf die Idee bin ich gekommen, als ich vorhin gelernt habe, dass moderne Piepser nicht nur ein Suchsignal senden können, sondern zusätzlich auch personenbezogene Daten. Das hat Folgen: Wer heute Lawinenopfer sucht, weiß nicht nur, dass da unten jemand liegt, sondern auch wer. Diese Innovation verwandle ich in Motivation. Da unten, denke ich mir, liegt nicht irgendein mir unbekannter Tourengänger, sondern, sagen wir, meine gesamte Familie. Und ich suche jetzt nach ihren Signalen. Auf meinem Display erscheinen dann die zugehörigen Namen. Und dann darf ich entscheiden: Wen grabe ich aus und wen lasse ich erst einmal liegen?   

Meine Einstellung ändert sich sofort. Ich – der Typ, der manchmal auf dem Parkplatz zwischen einem Carsharingauto und zwei Kindersitzen steht und am liebsten davonlaufen würde, weil ich nicht weiß, welchen Sitz ich auf welcher Seite einbauen soll – bin nun nicht mehr auf der Kuhweide, ich bin jetzt tief in den Alpen; ich suche nicht irgendein Schneehäuflein, ich suche meine Kinder; das hier ist kein Gaudi, es ist ein Kampf gegen den Weißen Tod. Die Zeit läuft, ich laufe, aber ich finde einfach kein Signal.  

Und dann ist die Zeit auch schon rum. 

Meine verschüttete Tochter (Symbolbild)

Atem- und ratlos stehe ich nun neben dem Schneehäuflein, das eben noch eine meiner Töchter war oder meine Frau. Unser Übungsleiter steht auch dabei. Auch die anderen Kursteilnehmer sind gekommen. Insgesamt sind wir acht. Wir stehen im Kreis. Keiner von uns kann sich erklären, was da gerade passiert ist, warum ich kein Signal gefunden habe. Jeder von uns zeigt mit ausgestreckten Arm auf den gleichen Punkt im Schnee in unserer Mitte, in der Hand, als würden wir versuchen, ein Bluetoothverbindung mit dem Schnee aufzunehmen, unsere LVS-Geräte, aber niemand von uns empfängt ein Signal. Der DAV-Lawinenpiepser, er bleibt stumm.  

Wir haben es versemmelt, Mittagspause. 

Nach der Mittagspause fangen wir unser Geländespiel von vorne an, dieses Mal mit Fokus auf das, was unsere Ausbilder die Feinsuche nennen. Feinsuche ist, wenn der Suchende das Signal des Verschütteten empfangen und sich bereits auf fünf Meter oder so genähert hat und dann die exakte Position bestimmt. Bei der Feinsuche soll man sich nicht schnell bewegen, sondern langsam. Eine genaue Positionsbestimmung, so lernen wir, dauert. Wir sollen den Geräten Zeit lassen. Und genau arbeiten. Nicht einfach irgendwo anfangen zu graben. Denn liegt der Verschüttete ein paar Meter tief unter dem Schnee, reicht schon eine kleine Ungenauigkeit bei der Suche und man buddelt am Opfer vorbei. Und Abweichungen gibt es, weil das Signal in Feldlinien verläuft, so lange, bis man sich praktisch direkt über dem Verschütteten befindet.  

Dann lernen wir noch sondieren, also mit einer langen Stange in den Schnee piepsen und erspüren, ob die Spitze auf Grund trifft oder auf Mensch und buddeln, allerdings, weil halt kaum Schnee liegt, jeweils nur theoretisch, also gar nicht. 

Mehr habe ich nicht behalten und wer genauer wissen will, wie man andere aus Lawinen rettet, kann sich das entweder anlesen oder besucht selber einen LVS-Kurs. Oder besser mehrere. Denn ein einziger Tag wie wir ihn auf dem Schauinsland verbracht haben, reicht gerade mal für Grundkenntnisse. Wer richtig ein richtiger Lawinenretter werden will, braucht noch viel mehr Ausbildung und vor allem viel von dem, was eigentlich keiner hier jemals sammeln will: praktische Erfahrung.  

Nachtrag:  

Macht Sie dieser Text unzufrieden? Vielleicht weil da noch eine wichtige Information fehlt? Weil jetzt einfach offen geblieben ist, wie es sein konnte, dass der vergrabene Lawinenpiepser nicht funktionierte. Und dann auf einmal irgendwie wohl doch?  

Dann geht es Ihnen wie mir.  

Ich habe jetzt drei Tage lang darüber nachgedacht und bin zu folgendem Ergebnis gekommen. Es gibt eine Erklärung dafür, warum der vergrabene Piepser kein Signal gesendet hat, aber dieser Grund ist keine technische Störung. Auch menschliches Unvermögen möchte ich gerne ausschließen. Stattdessen schlage ich eine andere Erklärung vor.  

 Und die geht so. Ein wichtiges Kursziel, das ich ja auch ganz an den Anfang dieses Texts gestellt habe, lautete: Man soll sich von der Funktionsfähigkeit seines LVS-Geräts überzeugen und man soll damit umgehen können. Ich vermute nun, dass diese wichtige Information, wenn mit dem Gerät alles glatt gelaufen wäre, einfach untergegangen wäre. Erst dadurch, dass es NICHT funktioniert hat, wurde uns klar, wie wichtig es ist, dass es funktioniert. Die DAV-Ausbilder sind also nicht nur echte Bergfüchse, sondern auch didaktisch clever. Trau da oben nichts und niemanden. Auch nicht dem DAV. Nicht einmal uns Ausbildern. So muss es gewesen sein, eine andere Erklärung kann ich mir wirklich nicht vorstellen. Die Botschaft ist angekommen. Danke.