Einmal über die Alpen fahren mit dem Fahrrad (Teil 3)

So eine Reise soll ja auch immer ein bisschen eine Reise zu sich selbst sein. Erkenne dich selbst und so weiter. Was meine geplante Alpenüberquerung angeht, klappt das schon ganz gut. Sogar schon lange vor der Abreise. So durfte ich eben entdecken, dass ich gar nicht, wie ich es eigentlich gerne glauben würde, ein Mann mit Prinzipien bin.

Der Reihe nach. Es begann mit einer Nachricht von meiner Krankenkasse. Meine Krankenkasse gehört eigentlich nicht zum Kreis derer, mit denen ich Nachrichten austausche. Die bekommen jeden Monat Geld von mir, ich bekomme alle paar Jahre von denen eine Karte mit meinem Bild drauf.

Das war’s.

Wobei das natürlich nicht ganz stimmt. Einmal stand ich nämlich doch ganz kurz davor, meiner Krankenkasse einen Brief zu schreiben. Einen geharnischten. Es ging um Homöopathie. Ich hatte das Bedürfnis, irgendjemandem mitzuteilen, dass ich überhaupt nichts dagegen hatte, wenn die Leute sich irgendwelche Substanzen einwarfen. Solange ICH nichts damit zu tun hätte. Sobald ICH jedoch für diesen Hokuspokus bezahlen sollte, hörte meine Toleranz auf, denn jeder Euro, den Krankenkassen dafür ausgeben, fehle an anderer Stelle und damit sei ICH als Beitragszahler nicht einverstanden und darum möge meine Kasse bitte damit aufhören, Aberglauben zu bezuschussen.

Wissen Sie, woher der Begriff Hokuspokus kommt? Nein? Es gibt da eine, unbewiesene, Theorie und die geht so: Womöglich steckt die Kirche dahinter. Wenn der Pfarrer in der Messe das Kunststück vollbringt, Oblaten in den Körper von Jesus Christus zu verwandeln, murmelt er dabei doch bekanntlich die Worte “Hoc est enim corpus meum“. Das soll unsere gläubigen Ahnen so sehr beeindruckt haben, dass sie die magischen Worte des Pfarrers, oder das, was sie sich davon gemerkt hatten, auch außerhalb der Kirche zu verwenden begannen und von da an dauerte es nicht mehr lang und „Hokuspokus“ wurde zur Standardansage für jede Art Gelegenheit, bei der dem Publikum ein gewisses Maß an magischem Grundvertrauen abverlangt wird.

Wie gesagt, ich weiß nicht, ob das stimmt, aber ich glaube es jetzt einfach mal. Denn der Glaube daran, dass sie es war, die mit Hokuspokus angefangen hat, macht mir die Kirche irgendwie sympathisch.

Zurück zu meiner Krankenkasse, von der ich also Post bekommen hatte. Es ging, das war auf den ersten Blick zu erkennen, um das Thema Gesundheitsprämien. Na toll, dachte ich, schon wieder Werbung für Mittelverschwendung und schaltete vorsorglich schon mal in den Empörungsmodus. Ich las weiter und tatsächlich, wenn ich an einer Reihe von Gesundheitsmaßnahmen teilnähme, stand da, hätte ich Anspruch auf eine von verschiedenen Prämien. Unter diesen Prämien aber fand sich nicht, wie von meinem argwöhnischen Ich vermutet, eine Schnupperstunde beim Heilpraktiker oder etwas ähnlich Anrüchiges. Dafür allerdings ein Zuschuss zu einer Sportuhr.

Auch wenn ich es nicht gleich erkannte: Das war der Punkt, an dem das mit der Erkenntnis anfing. Denn so eine moderne Uhr, das hatte ich seit meinem Besuch im Landkartenhaus herausgefunden, zeigt nicht nur die Uhrzeit und dazu ein bisschen Herzschlagschnickschnack an. Nein, moderne Uhren sind auch in der Lage, mir den richtigen Weg über die Alpen zu zeigen. Das Angebot meiner Kasse war genau das, was ich wollte – und damit kam ich meinem wahren Ich auf die Spur.

Ich fing an, das Schreiben genauer zu lesen. Je mehr ich las, umso mehr gefiel es mir. Da war zum Beispiel dieses Detail: Um mich für eine Prämie zu qualifizieren, sollte ich aus einer Reihe von Maßnahmen bloß drei auswählen und, das ist der Teil, an dem sich mich endgültig hatten, meine bei mir mitversicherten Kinder dürfen für mich mitsammeln. Um sicherzustellen, dass ich es richtig verstanden hatte, las ich es zwei Mal, aber es stimmte: Ich musste gar nicht selber zur Darmspiegelung oder so. Ich konnte einfach meine Kinder gesundheitlich voranbringen und sie, sagen wir, mal wieder zum Impfen schicken.

Impfen war gut, impfen kannten sie und irgendwas zu impfen fand sich immer. Vor allem aber bekamen die Kinder nach dem Impfen jedes Mal ein schickes Pflaster und sie durften sich zusätzlich auch noch etwas aus der Schatzkiste aussuchen. Dieses Mal bekämen eben nicht nur meine Schutzbefohlenen etwas zum Spielen, sondern zur Abwechslung eben auch mal derjenige, der hier jeden Tag den Schornstein am Rauchen hält. Also ich.

Ich fand das nur fair. Ich fand, da hätte man ja auch mal früher draufkommen können. Ich fand, eigentlich war das ja auch mal überfällig. Das war ja auch wirtschaftlich total sinnvoll. Prävention ist schließlich billiger. Gerade bei meinem Talent für Navigation und Orientierung. Wenn man mich ohne meine schicke neue Uhr in die Berge ließe – obwohl ich das Schreiben meiner Krankenkasse noch nicht einmal zu Ende gelesen hatte, bezeichnete ich die Uhr schon als „meine“ – würde ich ohnehin nur verloren gehen. Und worauf lief das hinaus? Dass ich am Ende orientierungslos und dehydriert auf irgendeinem Single Trail hing und gerettet werden musste.

Und was so ein Flug mit dem Rettungshubschrauber kostet, wusste ich. Ich hatte schließlich schon einmal einen gebraucht. Auch damals war ich Fahrradfahren gewesen in den Bergen. Gestürzt war ich, in einer engen Schlucht. Mit schwersten Verletzungen an Kopf und Rücken bergen und ausfliegen hatte man mich müssen. Zwei Wochen Krankenhaus hatte mir das eingebracht. Was das alles gekostet hatte! Allein der Flug mit dem Hubschrauber. So eine Stunde im Heli entsprach doch sicher dem Gegenwert von mehr als einem Kilogramm potenziertem Zucker. Es war doch für alle besser, wenn ich meiner Solidargemeinschaft noch so eine Rechnung ersparte. Sollten die mir mal schön meine Uhr zahlen, damit kamen sie auf jeden Fall billiger weg.

Sie haben es längst gemerkt und irgendwann ging auch mir ein Licht auf: Ich bin kein Mann mit Prinzipien, sondern ein ganz gewöhnlicher Opportunist. Aber immerhin demnächst mit einer praktischen Uhr am Handgelenk, tröstete ich mich, und rief bei unserem Kinderarzt an.