Einige erstaunliche Dinge über das CERN, von denen ich nicht wusste, dass ich sie nicht wusste

Physiker wussten alles über das Higgs-Teilchen – nur nicht, ob es existiert

Als nächstes dürfen wir, womit ich nicht unbedingt gerechnet hätte, tatsächlich ins Innere des angemalten Gebäudes. Das Kontrollzentrum von Projekt ATLAS. ATLAS. Das ist mal, ganz anders als „Cyclotron“ oder „Hadron“ ein Wort, mit dem ich etwas anfangen kann. Atlas war bei den alten Griechen der starke Mann, der dafür gesorgt hat, dass unseren Vorfahren nicht der Himmel auf den Kopf fiel. Gespannt schaue ich nach, warum ATLAS ATLAS heißt und erfahre, der Name setzt sich zusammen aus A Toroidal LHC ApparatuS. Für alle, die es nicht wissen: Ein Toroid ist eine Rotationsfläche mit einem Loch in der Mitte.

Wir landen in einem schlichten Raum, der aussieht wie die Rezeption eines bodenständigen Mittelständlers oder einer modernen Arztpraxis, nur ohne Rezeption. An der Wand ein Bildschirm und eine Bank, auf die nur fünf von uns fünfundzwanzig oder so passen. 

Projekt ATLAS, so erfahren wir, betreibt eine von vier Messstellen in der LHC-Röhre, an denen Teilchen kollidieren und die Folgen registriert, gemessen und aufgezeichnet werden. Die vier Stationen sind ähnlich, aber nicht identisch aufgebaut. Das dient der Redundanz, die einen sollen die Ergebnisse der anderen verifizieren. Sie stehen aber auch in einer gesunden Konkurrenz zueinander. 

Unser Führer startet einen Film, darin geht es um das Higgs-Boson. Davon hatte ich schon gehört. Ich kenne auch seinen Spitznamen. Gottesteilchen. Heute erfahren wir mehr dazu. Dass im Standardmodell der Teilchenphysik lange Zeit ein entscheidendes Puzzlestück fehlte. Es war klar, dass es existieren musste. Ohne dieses Puzzlestück wären Teilchen masselos, sie würden mit Lichtgeschwindigkeit durchs Universum fliegen, ohne sich, weil die Gravitation dafür zu schwach wäre, anzuziehen. Ohne dieses fehlende Teilchen keine Atome, kein Wasserstoff, kein gar nix. 

Peter W. Higgs war einer der Forscher, die in den 1960er Jahren eine sehr präzise Beschreibung der Eigenschaften erstellten, die das Teilchen aufweisen müsste, um dazu zu passen, was über alle anderen Teilchen und deren Verhaltensweisen zueinander bekannt war. Ein Steckbrief, erstellt von theoretischen Teilchenphysikern, mit dem sich experimentelle Teilchenphysiker auf die Suche begeben sollten. 

Die Suche dauerte. 

Physiker, so hieß es, wüssten alles über dieses Teilchen – nur nicht, ob es tatsächlich existierte. Higgs selbst zweifelte nicht an dessen Existenz, wohl aber daran, dass die Existenz experimentell bewiesen werden könnte. 2012, als es dennoch gelang, war Higgs schon 83 Jahre alt, ein Jahr später gab es für ihn und François Englert den Nobelpreis. Die Bezeichnung Gottesteilchen lehnte Higgs, dem Vernehmen nach bekennender Atheist, ab und dazu, wie er zum Fliegenden Spaghettimonster stand, habe ich keine Überlieferungen gefunden. 

Jeder nur einen Cappuccino pro Jahr

Die Tür geht auf und die nächste Gruppe steckt ein paar Köpfe rein. Kurz müssen sie noch warten, aber lange wird unsere Tour nicht mehr gehen. Was bleibt uns denn, jetzt, wo das Higgs-Boson gefunden ist, auch noch übrig? Gelegentlich ist zu hören, dass es manchen Forschern ähnlich geht. Was meine kleine Gruppe staunender Besucherinnen und Besucher angeht, so hat unser Führer noch einen Trick parat. Er drückt irgendwo drauf, und das, was ich für einen Spiegel gehalten habe, verwandelt sich in ein Fenster. 

Der Trick verfehlt seine Wirkung nicht. Ein Raunen geht durch unsere Gruppe. Wir standen die ganze Zeit über nur ein paar Meter vom ATLAS-Kontrollzentrum entfernt – und können den Physikerinnen und Physikern jetzt live bei der Arbeit zuschauen. Die größte Entdeckungsreise der Menschheit zu den kleinsten Dingen im Universum und wir alle mittendrin. Da wird man dann doch noch einmal wach und schaut gespannt. 

Was wir sehen, sieht ziemlich exakt so aus, wie ich mir ein Kontrollzentrum vorgestellt habe. Viele Schreibtische mit jeweils mehreren Bildschirmen, die allesamt so ausgerichtet sind, dass die große Wand gut einsehbar ist, an der noch mehr und noch größere Bildschirme hängen. Auf jedem Bildschirm: Zahlen, Grafiken, Kurvendiagramme. Wenige Menschen. Jede Forschungsgruppe, so lernen wir, müsse ein gewissen Kontingent im Kontrollzentrum erbringen. Auch unser Führer sei immer mal wieder auf der anderen Seite der Scheibe anzutreffen. Es hört sich nicht so an, als wäre das eine Aufgabe, um die sich gerissen wird. Noch so eine Sache, von der ich nicht wusste, dass ich sie nicht wusste: Was dem einen das Teams-Meeting, ist dem andern der ATLAS-Kontrollraum.

Ich überlege, wie diese Art Spiegel, die auf Knopfdruck zum Fenster wird, heißt. Ist das ein Spionspiegel? Mag sein, aber zu spionieren gibt es hier eigentlich nichts. Das liegt nicht daran, dass das Higgs-Boson schon entdeckt ist und jetzt nichts mehr passiert. Es gibt nämlich durchaus noch die ein oder andere offene Frage, auf die das CERN Antworten geben will. Ich zitiere die CERN-Website: „Ist das Higgs-Bosom einzigartig oder gibt es eine ganze Gruppe solcher Teilchen? Kann es dabei helfen, die Ursprünge des Universums zu erklären und warum Materie über Antimaterie triumphiert hat? Erlangt es seine Masse, indem es irgendwie mit sich selbst interagiert? Und warum ist seine Masse so gering, dass sie die Existenz eines ganz neuen Mechanismus suggeriert? Könnten dunkle Materie und andere neue Teilchen dank ihrer Interaktionen mit dem Higgs-Boson gefunden werden?“

Dass es hier nichts zu spionieren gibt, hat einen anderen Grund. Das CERN veröffentlicht seine Daten sowieso. Wenn ich einen dieser Browser für dieses World Wide Web habe, kann ich mich hier durch fünf Petabyte Daten rund um Teilchenphysik wühlen. Kostenlos. Denn die Rechnung in Höhe von gut 1,2 Milliarden Euro pro Jahr ist schon bezahlt. Auch hier wieder als Service für alle, die den Umgang mit solchen Summen nicht gewohnt sind: Das entspricht pro europäischem Kopf pro Jahr in etwa einem Cappuccino und da ist die Tour von heute schon mit dabei – mir ist es das Vergnügen wert.