Kälter als das Weltall, heißer als die Sonne
Ein bisschen was wusste ich schon vorher über das CERN. Nicht viel. Aber genug, um die Familie auf dem Weg vom Schwarzwald an die Côte d’Azur zu einem Schlenker nach Genf zu überreden. Schauen und staunen wollte ich. Zu den Dingen, die ich schon wusste, gehört, dass es dort eine Röhre gibt, die 27 Kilometer lang ist und durch die Teilchen geschossen werden. Drei Dinge, die ich nicht wusste: dass die Röhre auf einer schiefen Ebene liegt; warum diese Ebene schief ist; dass ich die Gelegenheit bekommen würde, einen Knopf zu drücken.
Würde man an der höchsten Stelle der Röhre eine Murmel loslassen, würde die in die eine oder andere Richtung herunterrollen und dort nach ein bisschen Hin und Her zur Ruhe kommen. Ich erfahre das, als ich im Besucherzentrum, in dem unser Aufenthalt beginnt, vor einem sehr schlichten Modell des Teilchenbeschleunigers stehe. Eine durchsichtige, kreisförmige Röhre aus Plastik oder Plexiglas, die eine schiefe Ebene bildet und an deren tiefster Stelle eine Murmel ruht. Drücke ich nun einen Knopf, setzt sich die Murmel in Bewegung. Sie wird von einem Magneten angezogen. Der sitzt etwas weiter oben in der Umlaufbahn und wird von meinem Knopf bedient. Nach ein paar Zentimetern geht der Murmel der Schwung aus, sie rollt zurück und kommt nach ein bisschen Hin und Her zur Ruhe. Drücke ich den Knopf erneut, setzt sie sich in Bewegung und inzwischen habe ich auch verstanden, dass ich, um die Kugel vom Hinabrollen abzuhalten, den nächsten Knopf drücken muss.
Von Null auf knapp unter Lichtgeschwindigkeit in…
Am CERN ist Teamarbeit gefragt. Insgesamt gibt es fünf Knöpfe zu drücken. Da bin ich froh, von Frau und Kindern begleitet zu werden. Wir besetzen die Knöpfe, drücken und lernen, unsere Murmel zu beschleunigen. Das ist nicht ohne, jedenfalls hilft kein Schimpfen. Drückt man zu spät, ist die Murmel schon unwiederbringlich auf dem Weg nach unten. Drückt man zu früh, bremst man sie bereits auf dem Weg nach oben. Teambuildingmaßnahmen im Familienkontext, heikel. Wir bedienen unser Modell des Teilchenbeschleunigers schon eine ganze Weile, als ich verstehe, dass wir hier gerade wirklich nichts anderes machen als genau das. Wir bedienen das Modell eines Teilchenbeschleunigers. Genau so geht das. Ein Teilchen, eine Röhre, eine Reihe von Magneten und dann das Teilchen beschleunigen.
Was passiert, wenn man richtig drückt, ist, dass die Kugel den ersten Magneten passiert und dann in Reichweite des zweiten Magnetfelds gelangt, wo wieder richtig gedrückt werden muss. So nimmt die Kugel auf dem Weg nach oben Fahrt auf. Nach fünf Minuten schaffen wir es, unsere Kugel durch alle fünf Stationen zu beschleunigen. Unsere erste Runde ist geschafft. Es wird die letzte bleiben. Die Profis, die das Original unter uns bedienen, jagen ihre Teilchen 330.000 Mal im Kreis herum. Pro Sekunde. Aber die haben ja auch nicht wie ich mit meinem Team nur fünf Magnete, sondern 9.300.
Exkurs zur Lichtgeschwindigkeit: Dass das Licht von der Sonne bis auf die Erde ein paar Minuten und vom äußersten Rand des sichtbaren Universums ein paar Millionen Jahre braucht, wusste ich. Auch, dass nichts schneller ist als Licht. Wie schnell genau ist Licht? Auch das ist wie die Temperatur der Sonne eine Zahl, die ich nicht auswendig weiß. Waren es 300.000 Kilometer pro Sekunde? Oft gehört, nie gemerkt. Worüber ich jedoch noch nie nachgedacht habe: Wer oder was ist eigentlich Zweiter – und wie groß ist der Rückstand?
Im CERN lerne ich, liegen die hier beschleunigten Teilchen um vier Meter pro Sekunde hinter der Lichtgeschwindigkeit zurück. Auch das schreibe ich mal so auf:
Licht: 299.792,458 Kilometer pro Sekunde
CERN-Teilchen: 299.792,454 Kilometer pro Sekunde
Allerdings hat das CERN-Teilchen gegenüber dem Licht einen Nachteil. Während ich, um Licht auf Lichtgeschwindigkeit zu bringen, lediglich einen Schalter drücken muss, muss das CERN, um seine Teilchen bis zur Höchstgeschwindigkeit zu beschleunigen, deutlich mehr Aufwand treiben. Dazu gehören besagte 9.300 Magnete, die es sind, die auf besagte -273,3 Grad Celsius herabgekühlt werden müssen – und eine Menge mehr. Von Null auf knapp unter Lichtgeschwindigkeit dauert es am CERN, allein schon, um die ganzen Magnete herunterzukühlen, mehrere Wochen.