Teilchenbeschleuniger sind für das CERN, was meine Fahrräder für mich sind
Unser Vortrag beginnt. Wozu braucht es eigentlich ein CERN? Lustigerweise ist das eine Frage, die ich mir noch nie gestellt habe. Unser Physiker beantwortet sie trotzdem: Im zweiten Weltkrieg hatten viele Forscher Europa den Rücken gekehrt, nach Kriegsende gab es in Europa keine Forschungseinrichtung für Atomphysik für von Weltrang. Einige Männer fanden das unbefriedigend. Sie entwickelten Pläne für die Erforschung von Atomphysik für friedliche Zwecke und schlugen vor, weil die Verwirklichung ihrer Pläne teuer werden würde und es doch auch ein schönes Zeichen für ihre friedliche Intention war, dass mehrere Länder sich zusammentun sollten. Lange verhandeln wollte man nicht, schließlich war Amerika schon weiter. Vom ersten offiziellen Vorschlag, 1949 vom Franzosen Louis de Broglie vorgestellt, bis zur Vereinbarung über die Gründung des CERN vergingen gerade einmal gut zwei Jahre. 1954 dann die offizielle Gründung.
Ein Bild von de Broglie hängt zusammen mit dem einiger anderer Männer, es sind tatsächlich ausschließlich Männer, an der Betonwand, die uns umschließt und von der über die wir erfahren, dass sie vier Meter dick ist. Oder waren es fünf? Jedenfalls deutlich mehr, als angesichts der tatsächlich auftretenden radioaktiven Strahlung in diesem ersten Teilchenbeschleuniger nötig gewesen wäre – wessen man sich damals aber wohl nicht ganz sicher gewesen sei.
Eine Sache, von der ich nicht wusste, dass ich sie nicht wusste: Das CERN hält es mit seinen Teilchenbeschleunigern wie ich mit meinen Fahrrädern. Zu den wenigen mathematischen Formeln, die ich auswendig kenne und verstehe, zählt diese hier: N+1. Sie besagt, dass ich, egal, wie viele Fahrräder ich gerade habe (N), immer noch eins mehr brauche (+1). Das CERN will auch immer noch einen Teilchenbeschleuniger. Beim Synchro-Cyclotron war es sogar so, dass der Wunsch nach einem neuen Teilchenbeschleuniger schon da war, bevor er 1957 in Betrieb genommen wurde – und wie bei meinen Fahrrädern sorgt das neue nicht dafür, dass das alte abgestellt wird. Der Synchro-Cyclotron war dann länger in Betrieb als ursprünglich geplant und leistete 33 Jahre lang seine Dienste.
Damit sind wir im Jahr 1990 – und in einer Zeit, die für das CERN aus einem ganz anderen Grund als dem Beschleunigen von Teilchen wichtig ist. Oder vielmehr aus einem nachgelagerten Grund: Das CERN ist auch insofern eine internationale Forschungseinrichtung, als dass es sich über zwei Länder erstreckt. Die Schweiz und Frankreich. Forschung lebt vom Teilen von Daten und eben das war am CERN aufgrund der Grenze ein Problem.
Im Schweizer Teil gab es andere Netzwerkinfastrukturen als im französischen. In beiden Ländern arbeiteten die Menschen mit den gleichen Computern, aber Daten zu teilen, war ein schwieriges Unterfangen. Wer eine Lösung für dieses Problem fand, war Tim Berners-Lee. Seine Lösung basiert auf Konzepten, die sich hinter Begriffen wie Hypertext, HTML oder HTTP verbergen, und wurde von Berners-Lee auf den Namen Word Wide Web getauft. Klar, dass er auch die erste Webpräsenz der Welt schuf. Die gibt es immer noch. Sie können sie besuchen unter http://info.cern.ch, kostenlos und mit jedem, auch das eine Erfindung von Berners-Lee, Browser.
Wie viele Teilchenbeschleuniger gibt oder gab es am CERN? Die Antwort auf diese Frage ist mittlerweile komplex. War der erste Teilchenbeschleuniger noch gerade, waren die folgenden, wie das Modell, auf dem ich vorhin mit der Familie herumdrückte, ringförmig ausgelegt, dass die Teilchen auf ein festes Hindernis stießen – ähnlich wie bei der Zielscheibe am Schießstand – lässt man sie inzwischen lieber miteinander kollidieren. Darum war der Synchro-Cyclotron eine gerade Röhre, während aktuelle Beschleuniger – wie das Modell, bei dem ich mit der Familie die Knöpfe drücken durfte – die Form eines Rings haben. Zumindest die meisten. Sie sind auch miteinander verbunden, sodass die Forscher die Teilchen vom einen in den anderen Beschleuniger umleiten können. Das müssen sie auch, um auf die volle Geschwindigkeit zu kommen. Haben die Teilchen im einen Beschleuniger ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht, werden sie – wenn sie nicht schon jetzt gebraucht werden – in den nächstgrößeren umgeleitet und dort weiter beschleunigt. Das CERN betreibt inzwischen einen Teilchenbeschleunigerkomplex und der sieht aus wie etwas, von dem ich bestimmt nicht der Einzige bin, der das gerne mal als Modell unterm Weihnachtsbaum liegen hätte – und dessen Form sich, wie ich nun verstehe, auch im Logo des CERN wiederfindet.
Als würde man aus zehn Kilometern Entfernung Nadeln aufeinander feuern
Der größte Kreis dieser Kugelbahn enthält den Large Hadron Collider. Das ist die Röhre, die 50 bis 100 Meter unter der Erde verläuft und von der wir jetzt erfahren, warum sie auf einer schiefen Ebene liegt. Der Grund ist nicht physikalischer, sondern geologischer Natur. Genauer erfahren wir es nicht. Irgendwas muss im Weg gewesen sein, durch das nicht und nur mit zu viel Aufwand gebohrt oder kein Rohr verlegt werden konnte. Man darf unserem Guide Fragen stellen, aber meine ist selbst mir zu trivial. Genf liegt am See und neben den Bergen, da wird es an Hindernissen beim Tunnelbau nicht mangeln. Und außerdem geht es jetzt weg vom Denkmal, rüber zu dem Teil der Kugelbahn, an dem tatsächlich geforscht wird.
An der Fassade des Gebäudes, an dem wir uns als nächstes versammeln, prangt, wie unser Führer erklärt, nicht etwa eine Darstellung des Quer- und des Längsschnitts des Projekts ATLAS, sondern eine Darstellung der Vorstellung dessen, die ein Künstler vom Quer- und Längsschnitt des ATLAS hatte. Die reicht immerhin erstens dazu, uns zu erklären, dass in der Röhre verschiedene Ringe stecken. Die verschiedenen Röhren, die sich wie die Jahresringe im Baumstamm um eine innerste Röhre legen, dienen nicht alle, wie ich warum auch immer und vollkommen fälschlicherweise angenommen hatte, dazu, Teilchen zu beschleunigen, die sich lediglich durch die innerste Röhre bewegen. Stattdessen fliegen verschiedene Teilchen durch verschiedene Röhren.
Eine weitere Annahme, die ich vollkommen uninformiert und unreflektiert mit ans CERN gebracht habe, wird hier ebenfalls einkassiert. Sie betrifft die Zahl der Teilchen, die hier beschleunigt werden. Sie ist etwas höher als ich dachte. Wie hoch genau? Ich meine, unser Führer sagte entweder 15 Billions, also 15 Milliarden – oder 15 Milliarden mal 15 Milliarden. Später werde ich es nachschauen und lesen, es werden „bis zu 3.000 Teilchenbündel mit jeweils maximal 100 Milliarden Teilchen im LHC-Ring auf Kollisionskurs“ geschickt. Auf welche Zahl ich mit meinem Vergleich mit dem Schießstand im Kopf getippt hätte, will ich lieber nicht verraten. Nur so viel noch dazu: Ich lag um etwa 3.000 x 100 Milliarden daneben.
Und dann lenkt unser Führer unsere Aufmerksamkeit noch auf die Darstellung im Mittelpunkt der Röhre. Man begegnet ihr so oder ähnlich eigentlich überall auf dem Gelände. Auch im Besucherzentrum, in dem ich Frau und Kinder zurückgelassen habe, war sie mir schon aufgefallen. An dieser Stelle muss ich erneut eingestehen, wie schlecht ich auf meinen Besuch vorbereitet bin. Ich schreibe in diesem Text die ganze Zeit entweder von allgemein von Teilchenbeschleunigern, aber das Beschleunigen der Teilchen, wie wir es vorhin in der Magnetbahn simuliert haben, ist überhaupt nicht das Ziel. Das Ziel ist es, die beschleunigten Teilchen aufeinanderprallen zu lassen. Das C in LHC steht für Collider. Wie in Kollision. In der alten Maschine, dem Synchro-Cyclotron, wurden die Teilchen auf ein festes Hindernis gefeuert. Daher mein Vergleich mit der Zielscheibe. In den neueren und ganz bestimmt im LHC, mit C wie in Collider, prallen die Teilchen aufeinander.
Das CERN schreibt, Teilchen kollidieren zu lassen ist, als würde man zwei Nadeln aus zehn Kilometern Entfernung aufeinander abfeuern und hoffen, dass sie sich auf halber Strecke treffen (zwei, wohlgemerkt, und nicht etwa 3.000 x 100 Milliarden; kein Wunder, laufen Besucher wie ich mit irrigen Annahmen über den Hof). Wenn sie sich treffen, zerplatzen sie in lauter Einzelteile. Elementarteilchen, die in alle Richtungen davonstieben und von denen manche nur sehr kurz existieren.
Das ist der Moment, an dem es im CERN heiß wird und bei dem das Bild herauskommt, das auch hier an der Fassade prangt. Ich meine, es so oder ähnlich auch schon mal woanders als am CERN gesehen zu haben. Oder erinnert es mich an irgendetwas? Ich komme nicht drauf. Was auch immer es ist, ich glaube nicht, dass es etwas mit dem CERN zu tun hat. Aber mit dem Universum schon irgendwie. Als der Groschen endlich fällt und die Lösung – „Das Fliegende Spaghettimonster!“ – frei von jeglichem Kontext aus mir herausplatzt, sind wir zum Glück längst über alle Berge. Das CERN kann sehr froh sein, dass nicht ich derjenige bin, den es das größte Wissenschaftsexperiment der Welt zu illustrieren beauftragt hat.