Einmal habe ich auf der Bühne gezögert. Das Haus war ausverkauft, das Publikum bereits in voller Fahrt. Etliche waren schon kollabiert und abtransportiert, dabei hatte die Show noch nicht einmal angefangen. Ich sah auf mein Publikum herab, mein Publikum sah zu mir hinauf. Es war vom Kreischen schon ganz rot.
Ich hatte zwar, außer einem großen Besen und einer Rolle Plastiksäcke, nichts im Programm, aber ich wusste ganz genau, was ich zu tun hatte, was von mir verlangt wurde, wofür ich schließlich bezahlt wurde.
Trotzdem zögerte ich.
Das Publikum bestand aus jungen Mädchen. Die meisten von ihnen hatten den ganzen Tag über in der Sonne gewartet, beim Einlass hatten sie miteinander gerangelt, dann hatten sie sich stundenlang gegenseitig an die Bühne gequetscht. Manche mussten dringend Pipi, aber dann würden sie ihren Platz verlieren. Manche ließen das mit dem Trinken einfach sein und manche ließen es einfach laufen, weil sie sich in weiser Voraussicht Windeln angezogen hatten.
Ich blickte in tausende Augen und tausende Augen blickten auf mich. Die armen Mädchen hatten keine Ahnung, wer ich war und was ich da oben wollte. Ich war keiner von denen, die sie sehen wollten, die sie hören wollten, von denen sie, selbst noch Kinder, ein Kind wollten.
Sie hatten das mit dem Kinderwunsch so aufgeschrieben und vieles andere auch, die Briefe, rosa, handgeschrieben, mit Aufklebern verziert, hatten sie genau wie tausende Kuscheltiere, Poesiealben, BHs, Tampons auf die Bühne befördert.
Die Halle fasste zehntausend Mädchen, trotzdem sah sie halbleer aus. Das lag daran, dass diese Mädchen noch so klein waren und dass sie alle nach vorne wollten. Jedes dieser Mädchen hatte sich von seinem Werfobjekt voller Hoffnung getrennt und da lagen sie nun, die dinggewordenen Träume und Phantasien der liebestollen Heranwachsenden.
Mein Job war es, das alles aufzufegen und wegzuräumen. Als mein Zögern vorbei war, setzte das große Heulen ein, aber was weg muss, muss weg.
Später fragte ich den Tour Manager, was mit den Dingen aus dem Sack geschehen würde. Der behauptete, die Kuscheltiere würden dem Kinderheim gespendet. Ob das stimmt? Ich weiß es nicht. Aber was mit den Liebesbriefen geschah, weiß ich genau.
Ich habe sie gelesen. Jeden einzelnen von ihnen. Einer gefiel mir besonders. In meiner Erinnerung rührte er mich zu Tränen und obwohl ich nicht der Adressat war, fühlte ich mich doch angesprochen. Er war in Schönschrift verfasst, bestimmt eine vorbildliche Schülerin, was ich auch dem Umstand entnahm, dass der Brief mit vollständigem Namen signiert war. Es stand auch eine Anschrift dabei. Und eine Telefonnummer! Ich ließ einige Tage verstreichen, dann rief ich unter der angegebenen Nummer an und mit der, die sich am andern Ende antwortete, bin ich noch heute zusammen…
Stimmt natürlich nicht. Gelesen habe ich die Briefe, aber nicht alle und gerührt war ich auch nicht. Gelacht habe ich über die armen Mädchen. Ich habe mir die Zeit während des überaus langweiligen Konzerts damit vertrieben, meinen Kollegen die besten Passagen daraus vorzulesen und die allerbesten Briefe habe ich natürlich nicht der Band ausgehändigt, sondern bei uns in der WG an die Klowand geklebt.