Erwachsene können nicht weinen

Wer von Freiburg aus in die Ostschweiz fährt, durchquert den Schwarzwald und kann seinen Kindern, damit die nicht spucken, Aufgaben stellen, bei denen sie zum Fenster rausschauen müssen. Zum Beispiel die hier: Wie sieht es im Schwarzwald aus? Wie sieht es in den Alpen aus? Und worin unterscheidet sich die eine von der anderen Landschaft?

Die Kinder betrachten die wechselnde Landschaft so gewissenhaft und ausdauernd, dass ich die Aufgabe, als sie mir ihre Ergebnisse liefern, längst vergessen habe.

„Geräumig.“
„Was?“
„Die Berge hier. Die sind anders als im Schwarzwald. Sie sind geräumig.“

Eine interessante Beschreibung, denke ich. Müsste man mal der Tourismusbehörde vorschlagen, denke ich. Dann hätten die mal ein anderes Adjektiv für ihre Berge als „majestätisch“ oder „atemberaubend“. Geräumig gefällt mir. Ich überlege, ob die Wortwahl damit zusammenhängt, dass wir neulich erst umgezogen und darum allesamt geübt im dechiffrieren von Wohnungsannoncen sind. Ich überlege, ob die Kinder mal in meine Fußstapfen treten und sich Sätze ausdenken werden. Sätze wie: „Geräumige Gebirgskette umständehalber abzugeben.“

Und dann sind wir auch schon da.

Raus aus dem Auto, rein in die Wanderschuhe, Rucksäcke auf und los geht’s. Bei unserem Ausflug handelt es sich um einen Gruppenausflug. „Wandern, Spaß und Entspannung im Schweizer Alpstein.“ Insgesamt zähle ich um die 30 Köpfe, verteilt auf sieben oder acht Familien, eine davon sind wir vier. Wir vier wollen ein bisschen Alpenluft schnuppern, die Kinder an die Bergwelt heranführen, schauen, wie gut wir zusammen im Gebirge klarkommen und ein paar Erinnerungen sammeln, an die wir dann gerne anknüpfen können. Sodass wir in ein paar Jahren dann richtige Bergtouren miteinander unternehmen können.

Ich will außerdem meine neue Jacke ausprobieren.

Wir folgen den weiß-rot-weißen Markierungen und haben reichlich Essen, Trinken und Sonnencreme dabei. Die Alpen kennen die Kinder bislang nur voll Schnee. Skifahren klappt schon ganz gut. Im letzten Skiurlaub kam von der Älteren, die nassgeregnet, vollgeschwitzt und nach offiziellem Ende ihres Kurs mit der Zuversicht eines Sportlers, der sich auch mal selbst einwechselt, einfach wieder hochliftete, die Erklärung, sie habe noch ganz viel Kraft.

Wenn es ums Draußensein und irgendwas machen geht, ist das inzwischen ihr Mantra. Ich hab noch ganz viel Kraft. Sie sagt das nicht nur und sie glaubt das nicht nur: Es stimmt auch.

Mit der Jüngeren verhält es sich so: Ob sie den Weg aus eigener Kraft schafft, wissen wir nicht. Wobei es bei ihr nicht eine Frage des Könnens ist, sondern des Wollens. Deshalb haben sie und ich ein spezielles Arrangement: Sie läuft so lang sie laufen kann. Und wenn sie nicht mehr kann, trage ich sie. Wobei wir nicht tragen sagen, sondern hutzeln. Hutzeln ist, wenn ich das Kind auf meinen Schultern trage. Ich kenne das von meinem Vater. Der hat mich auch immer gehutzelt.

Die Tour geht über drei Tage. Die erste Etappe soll drei Stunden Gehzeit dauern und über 745 Höhenmeter gehen, am zweiten Tag stehen drei Stunden und 462 Höhenmeter an, am dritten wieder drei Stunden und 649 Hömis. Der höchste Berg in der Nachbarschaft ist der Säntis. Egal, wo wir sind, den erkennen wir immer und zwar an seiner Antenne, zu der die Kinder „Rakete“ sagen.

Vier Stunden und ein røggsrødegewagg später müsste die Hütte da hinten um die Ecke das Tal hoch irgendwann demnächst bestimmt bald auftauchen. Kurze Besprechung. Eine aus unserer Gruppe entwickelt eine Formel, mit der wir die auf den Wegweisern angegeben Gehzeiten umrechnen können, sie ist ganz einfach: „Die Zeiten sind für Schweizer Wanderer. Alle anderen brauchen doppelt so lange.“

Da vorne um die Ecke und dann immer geradeaus.

Ich bin zwar in der Schweiz geboren, falle aber trotzdem unter „alle anderen“, was aber weniger an meiner Staatsbürgerschaft liegt, als vielmehr an dem besonderen Arrangement, von dem die Jüngere seit etwa einer halben Stunde Gebrauch macht. Ich teile der Gruppe die Entdeckung des folgenden Naturphänomens mit: Das Wandern mit lebendem Gepäck strenge zwar an, aber trotzdem vergehe die Zeit schneller. Mein Nebenmann findet, die Zeit vergehe normal, aber der Weg werde einfach nicht kürzer.

Eine Stunde später gilt ein neues Arrangement: Wenn die Jüngere nicht mehr weiterkann, trage ich sie – solange, bis ich nicht mehr weiterkann; dann läuft sie wieder. Der Deal ist für beide Seiten in Ordnung. Zwei Stunden später bemerke ich, dass die Intervalle kürzer werden. Drei Stunden später nähern wir uns Sie kann nicht mehr so lange, ich aber auch nicht. Drei Stunden später meldet sich meine innere Uhr. Es ist jetzt achtzehn Uhr. Seit ich Kinder habe heißt das: Abendessen. Vier Stunden später habe ich unser Ziel, die Mesmerhütte, noch immer nicht gesehen.

Sagen wir ruhig, wie es ist: Die von der Jüngeren und mir dargebotene menschliche Pyramide hält sich nicht mehr ganz so gerade wie anfangs. Einmal haben wir bereits einen kleineren Steinschlag ausgelöst. Und ich habe inzwischen die Hände aus den Taschen genommen. Wir bewegen uns gerade irgendwo in der Mitte unserer ziemlich langgezogenen Wanderergruppe und ich erkenne, dass wir uns Schritt für Schritt, die Kinder sagen „dipp dipp dipp“, auf die erste Stelle unseres Weges zubewegen, die alle Attribute vereint, die unseren Weg zu einem Bergweg machen.

Die einschlägigen Vokabeln sind: Trittsicherheit, exponiertes Gelände, Schwindelfreiheit, Absturzgefahr. Wer einen solchen Weg geht, sollte über eine gute körperliche Verfassung verfügen, in der Lage sein, Gefahren zu erkennen und einzuschätzen.

Jetzt heißt es aufpassen. Ich überlege: Soll ich meine Jüngere auf den Abgrund hinweisen? Oder einfach ganz normal mit ihr weitergehen? Ich weiß es nicht, also nehme ich sie an die Hand. Bislang geht sie weiter wie bisher. Sie macht das souverän. Sie achtet auf den Weg, sie setzt ihre Schritte mit Bedacht, sie hat immer einen guten Stand und nimmt den Weg wie er kommt. Kleiner Buddha, schaut weder zurück, noch nach vorn. Noch sind es ein paar Meter, vielleicht merkt sie es ja selbst und thematisiert es von sich aus?

Wie gut kenne ich mein Kind? Nicht gut genug, um einschätzen zu können, was sie als nächstes denkt, sagt oder tut. Ihre Ankündigung kommt für mich vollkommen überraschend, aber so ist das eben:

„Pipi.“
„Jetzt?“
„Ja.“
„Hier?“
„Ja.“

Also hebe ich sie, wie das Eltern mit ihren Töchtern machen, in die Luft und lasse sie in hohem Bogen ins Tal pieseln. Ich weise sie auf einen Wasserfall hin, der uns genau gegenüber liegt und sage, dass sie jetzt gerade auch so ein Wasserfall ist. Das gefällt ihr sichtlich. Sie quietscht vor Vergnügen. Schön hier. Der Wasserfall hört gar nicht mehr auf und ich lobe sie dafür. Das ist ein Zeichen dafür, dass sie viel trinkt, was wichtig ist. Außerdem wird sie so leichter.

Diejenigen, die nach uns gehen, es sind doch nicht mehr so viele wie gedacht, schieben sich an uns vorbei. Sie gehen schon mal vor. Klar. Darunter auch die Ältere und die Mutter. Bei uns dauert es noch ein bisschen, denn die Jüngere hatte noch etwas zu verkündigen: „Kacka.“ Bis wir fertig sind, sind sie alle um die Ecke gebogen und verschwunden. Niemand mehr zu sehen, wir sind allein.

Rechts geht es hoch, links geht es runter, hinter uns Serpentinen, vor uns der exponierte, gesicherte Weg, der Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erfordert und an dem mir nicht, aber auch wirklich gar nichts geräumig vorkommt.

Zeit, dass wir ihn hinter uns lassen.

„Auf geht’s“, sage ich und da schafft es die Jüngere, mich auf ein- und demselben Flecken Alpenschotter zum zweiten Mal zu überraschen. Sie, die eben noch vergnügt quietschend Pipifall spielte, fühlt sich auf einmal, obwohl ich sie fest an der Hand halte, einsam und verlassen und hilflos. Und was macht so ein Menschlein, wenn es einsam und verlassen und hilflos ist?

Es ruft nach seiner Mama.

Das Echo hier im Tal ist beeindruckend. Aber von der Mama ist weit und breit nichts zu sehen. Da fängt das Kind an zu weinen. Vor einigen Wochen habe ich in meiner Eigenschaft als selbsternannter Erziehungsratgeber eine ähnliche Situation wie die beschrieben, in der ich mich jetzt befinde. Es ging um die Frage, was zu tun sein, wenn die Eltern wandern wollen, die Kinder aber nicht. Der Text endet mit einem fiktiven Dialog:

„Warum soll ich zu dieser blöden Hütte wandern?“
„Weil.“

An diese Zeile denke ich nun und bemerke meinen Irrtum. Der fiktive Dialog ist überhaupt keine Hilfe für Eltern, die mit ihren Kindern den Berg hochwollen und das liegt nicht am Inhalt oder der Form des Gesagten, sondern schon an der Grundannahme. Dass ein Dialog überhaupt stattfindet. Hier jedenfalls ist nicht mit Dialog. Hier ist kein Fragen, kein Verhandeln, kein Erklären. Hier ist nur, fest und majestätisch wie die Berge, die uns umgeben, ein Statement: Sie wünscht, jetzt nicht mehr weiter zu gehen.

Von mir hat sie das nicht.

Wer in den Alpen unterwegs ist, kann man an jeder Hütte lesen, soll die eigenen Kräfte kennen. Safety first. Im Zweifelsfall lieber auf die Tour verzichten. Ich würde dem Rat ja folgen. Ich würde sogar sehr gern ich auf den zweiten Teil der Reise verzichten, aber wie macht man das?

Also mache ich das einzige, was ich jetzt machen kann. Ich lasse das Kind brüllen und weinen, ich schaue auf den Weg vor mir, auf dem immer mal wieder einzelne Teilnehmer unserer Familienwanderung auftauchen, ich warte, bis ich die Mutter des Kindes erkenne und mache, als ich sei erkenne, diese international bekannte Geste, mit der man, die Arme auf Bauchhöhe vor dem Körper verschränken und dann die Hände umeinander kreisend, signalisieren kann, dass man bitte ausgewechselt werden möchte.

Die Mutter sieht mich, sie versteht mich, sie quittiert meinen Wunsch, indem sie mit den Fingerspitzen die höchste Stelle ihres Kopfes berührt. Das ist Tauchersprache und heißt: ok.

Sind wir nicht ein tolles Team?

Die Mutter und die Ältere drehen um, sie kommen zu uns zurück. Wir tauschen die Kinder und ich gehe vom Platz. Wobei vom Platz gehen hier gleichbedeutend ist mit: in die Wand.

„Geräumiger Abgrund umständehalber abzugeben“, denke ich, behalte den Scherz aber lieber für mich. Stattdessen befehle ich der Älteren, die Hand nicht von dem Drahtseil zu lassen, das am Wegesrand in den Stein geschraubt ist. Die Ältere ist wissbegierig. Sie stellt Fragen, immer stellt sie Fragen. Obwohl sie immer die gleiche Antwort bekommt. Warum muss ich mich festhalten? Weil. Warum bist du so langsam? Weil. Warum schaust du so komisch? Weil.

Kinder haben: Eben träumst du noch davon, ob sie eines Tages in deine Fußstapfen treten und jetzt flehst du sie an, dir nicht davonzurennen.

Ich überlege, ob ich meine Meinung, dass jetzt nicht der beste Moment ist, ein Gespräch über Höhenangst zu führen, revidieren soll? Ich lasse es lieber, fange aber doch an, meine Antworten etwas auszuführen. Was die Stimmung auch nicht gerade verbessert. Sie kann ja wohl schon laufen. Sie muss sich ja wohl nicht festhalten. Sie ist ja wohl schon oft hingefallen. Das macht ja wohl nichts. Ich soll mich mal nicht so anstellen.

Sie hat noch ganz viel Kraft – ich bin gemein.

Ich schaue nach unten. Diese Aussicht! Atemberaubend. Ich schaue nach hinten. Dort ist noch immer Sitzstreik. Ich schaue nach vorn. Ein paar Meter noch geht es so weiter wie hier, dann geht es ums Eck. Was danach kommt, weiß ich nicht. Fels, vermutlich, Geröll, ein paar versprengte Wandersleute und dahinten, irgendwo, ein Bett für die Nacht.

Ich will nicht mehr.

Lasst mich einfach hier liegen.