Fragment II

Ich schreibe ja eigentlich ständig an neuen Geschichten, wobei „Schreiben“ bei mir hauptsächlich „Streichen“ bedeutet. Manchmal streiche ich ein Wort, manchmal einen Satz, manchmal den ganzen Absatz – so ähnlich soll es Hemingway gesagt haben und zumindest in dem Punkt stehe ich dem guten Mann in nichts nach. Doch während Hemingway für seine gestrichenen Passagen nur den Papierkorb übrig hatte (in dem der Legende nach auch die Geschichte von alten Mann und dem Meer landete), gibt es für Fälle wie mich das Internet.

Was es nicht in die richtige Geschichte schafft, kommt also in meiner Reihe „Fragmente“ in dieses Blog. So wie die Anekdote von dem kleinen Kind, dem einmal Blut abgenommen werden sollte.

Die geht so:

„Dann warst du an der Reihe. Ich dachte erst, deine Lethargie habe mit dem Vermissen deiner Mutter zu tun, als das Fieber aber innerhalb kürzester Zeit auf über 40 Grad stieg, bekam ich Angst. Für unseren Kinderarzt war es schon zu spät, also gingen wir direkt in die Ambulanz der Uniklinik. Dort erlebten wir beide die schlimmste Nacht unseres Lebens.

Manchmal muss man in der Notaufnahme gar nicht warten. Je nachdem kommst du sofort dran. Es gibt da, wie ich während die überraschend junge Ärztin dich untersuchte, einer an der Wand festgehefteten Tafel entnehmen konnte, ein System namens Triage. Ich weiß nicht, wie man das spricht, aber ich verstand so viel: Je schlechter du dran bist, desto eher kommst du dran. Wenn sie dich mal wieder warten lassen, denk’ ruhig daran. Wer warten muss, darf froh sein.

Wir aber wurden sofort in das Behandlungszimmer gebeten, wo wir dich zu dritt, Ärztin, Schwester und ich, an Händen und Füßen sowie dem Kopf auf die Pritsche drückten. In den Mund schauen hatte noch ganz gut geklappt, du wurdest fürs Schreien sogar gelobt, aber für die Ohren hättest du den Kopf ruhig lassen und fürs Abhören beim Schreien pausieren müssen und mittlerweile wollte die Ärztin Blut sehen. Das wolltest du nicht, weshalb du nicht still hieltst, weshalb wir umso entschlossener vorgingen. Wir hatten dir bereits beide Handgelenke zerstochen, jetzt machten wir uns an die Füße.

Patienten in deinem Alter waren immer schwierig. Unkooperativ ward ihr und fett. Dein Babyspeck machte es uns ohnehin schwer, deine Venen zu finden, die dann aber auch zu treffen, war noch mal etwas anderes. Vor allem bei schweißnasser Haut. Vor allem bei vom Fieber und der Hitze und der Aufregung schlecht gewordenem Wasserhaushalt. Vor allem bei dir. So einen wie dich gab es selten, an Patienten wie dich wollte sich auch das couragierte Notfallpersonal lieber nicht gewöhnen.

Die Ärztin klopfte ein bisschen mit den Fingern auf deinen zwischen Knie und Zehen verlaufenden Venen herum und schaute dabei wenig zuversichtlich. Dann, dachte ich, doch lieber zuversichtlich. Sie stach die Nadel, ohne dabei auf Blut zu stoßen, wieder und wieder in deinen Körper. Du brülltest in Todesangst. Wir hatten dich fest im Griff. Gegen drei Erwachsene hat so ein Mäusle wie du es warst keine Chance. Ich zählte sieben Stiche, dann waren auch deine Beine nicht mehr zu gebrauchen. Jetzt, hieß es, blieb nur noch der Schädel.

Ich wollte es machen wie die Profis und mir dein Leid nicht zu Herzen nehmen. Ich war schließlich als Helfer gefordert und Helfer müssen einen klaren Kopf bewahren. Ich legte dir die Hand auf die Stirn. So hatte ich das bei deiner Geburt mit deiner Mutter gemacht, aber bei dir wirkte es nicht. Es stimmt schon: Niemand kann einem andern die Qual erleichtern. Nicht der Vater dem Kind, nicht der Vater der Mutter und nicht die Mutter dem Vater. Jeder von uns trägt sein Kreuz allein.

Zwei Stunden lang war schon auf dich eingestochen worden und nichts war erreicht. Im Gegenteil: Deinem AZ war die Quälerei nicht zuträglich. AZ hieß Allgemeinzustand. Ich fragte, ob das mit dem Blut denn wirklich so wichtig sei? Ja, schon, eigentlich schon. Dennoch ließ uns die Ärztin für einige Minuten in Ruhe. Damit wir verschnaufen konnten. Um sich zu konsultieren.

Sie hatte die Tür hinter sich noch nicht zugezogen, da warst du schon in meinen Armen eingeschlafen. Mein Telefon brummte. Um nachzusehen, wer jetzt was von mir wollte, hätte ich eine freie Hand gebraucht, ich hätte dich also kurz umlagern müssen, was dir in deiner Erschöpfung bestimmt nicht einmal aufgefallen wäre, aber ich wollte das nicht. Ich hielt dich wohl in meinem Arm und kein Telefon dieser Welt konnte das ändern. Als die Tür wieder aufging und die Ärztin zurückkam, hatte ich das Brummen, Leahs SMS, längst wieder vergessen.

Die Ärzte hatten sich beraten. Der Vorschlag lautete, uns auf die Intensivstation zu verlegen. Dort sei der beste Stecher anwesend, den ihr Haus zu bieten hatte, vielleicht habe der ja mehr Fortune. Sie drückte sich tatsächlich so aus. Fortune. Als handle es sich bei ihrer Profession um ein Glücksspiel. Ich fragte, was die auf der Intensivstation anders, was sie besser machen würden. Die Antwort war: eigentlich nichts. Aber manchmal sei es ganz gut, wenn ein frisches Team übernähme. Ein unbelastetes. Damit der nächste Stich vielleicht hoffentlich der letzte wäre.

Ein unbelasteter Arzt sollte also her, was wohl hieß, dass ihr die eigene Last zu schwer geworden war, aber von deiner Last sprach sie nicht. Was hättest du an meiner Stelle getan? Was wusste ich schon von der Medizin? Ich bin Programmierer, in meinem Beruf gibt es Nullen und Einsen, es gibt Lösungen und es gibt Holzwege, es gibt die Möglichkeit, Fehler zu eliminieren und es gibt am Ende ein Resultat, von dem ich weiß, ob es funktioniert oder nicht. Von Fortune verstehe ich nichts.

Wir wurden in den dritten Stock gebracht, du schlafend auf meinem Arm. Es ging durch eine Schleuse. Die Intensivstation. Jetzt waren wir bei den ganz armen Würstchen. Der einzige Paramater, den ich beeinflussen konnte, war meine Anwesenheit. Mit mir hatte es mit dem Zugang nicht geklappt, vielleicht klappte es ja ohne mich? Ich fragte den Oberstecher, was er von meiner Theorie hielt. Dem war das egal. Also ließ ich dich mit ihm allein und seiner Assistentin im Interventionsraum und wartete vor der Tür.

Es weht der Wind ein Blatt vom Baum, von vielen Blättern eines. Das eine Blatt man merkt es kaum, denn eines ist ja keines. Doch dieses eine Blatt allein war Teil von unserem Leben. Drum wird dies eine Blatt allein uns immer wieder fehlen.

Versuch’ das mal zu gurgeln. Das Gedicht und ein dazu passender Baum, von dem ein Blatt fiel, war an die Wand des Flurs der Intensivstation gemalt. Ich kann es noch heute flüssig rezitieren, so lange stand ich da.

Aber dein Blut bekamen auch die von der Intensivstation nicht.

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